Die Tatarenwüste

von Dino Buzzati

 

Verlag: Die Andere Bibliothek

 

Leseprobe

Drogo sah mit einem Mal die Stadt seiner Kindheit vor sich. Er erinnerte sich an lärmende, verregnete Straßen, an gipserne Statuen, an bimmelnde Glocken, an müde, abgearbeitete Gesichter. Er erinnerte sich an die feuchten Kasernenstuben, an die schmutzigen, verstaubten Zimmerdecken, an nicht enden wollende Nachmittage.
Und inzwischen stieg hier die große Nacht der Berge auf, zogen die Reiherschwärme der Wolken, wunderbarer Vorbedeutung voll, über den Himmel dahin, während sich vom Norden, von jenem geheimnisvollen Norden, Drogos Schicksal unabwendbar näherte.
Der Arzt stand bereits auf der Schwelle.
„Doktor, Doktor“, stammelte Drogo. „ Ich bin gesund.“
„Das weiß ich“, erwiderte Rovina. „Was haben Sie denn gedacht?“
„Ich bin gesund“, sagte Drogo nochmals mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. „Ich bin gesund und möchte hierbleiben.“
„Hier auf der Festung? Sie wollen nicht mehr fort? Was ist denn plötzlich mit ihnen?“
„Ich weiß nicht“, sagte Giovanni. „Aber ich kann nicht fort von hier.“
„Oh“, rief Rovina und trat auf Drogo zu. „Wenn das Ihr Ernst ist… Dann freue ich mich darüber sehr.“
„Es ist mein Ernst“, antwortete Giovanni und fühlte, wie im selben Augenblick seine Erregung in einem seltsamen Zustand, halb Schmerz, halb Glück, umschlug.
„Doktor“, sagte er, „werfen Sie dieses Zeugnis fort.“

(Ausschnitt aus: Die Tatarenwüste – Die Andere Bibliothek)

 

Inhalt

Nach seiner Ernennung zum Offizier wird Giovanni Drogo auf zwei Jahre zur Festung Bastiani an der Grenze zur Tatarenwüste versetzt. Mit großer Begeisterung bricht er auf, träumend von Heldentaten – und muss, nach irrigem Wege dort angekommen, schockiert feststellen, dass es sich um eine abgelegene, vergessene Bastion handelt. So ist sein erster und einziger Gedanke: Weg! Versetzung! Auf seine Bitte um sofortige Versetzung lässt er sich vom diensthabenden Major auf eine Zeit von vier Monaten vertrösten, um sich dann krankschreiben zu lassen. Doch als der Zeitpunkt gekommen ist, gerät er in den Bann der Festung, der alltäglichen Ordnung, des Panoramas der Berge, des Mythos eines unbekannten Feindes aus der Tatarenwüste – und beschließt, seine zwei Jahre abzusitzen. Doch aus den zwei Jahren werden vier, aus vier Jahren zehn… und so entfremdet sich Drogo immer mehr von der normalen Welt und geht – wie so viele andere auch – in der geheimnisvollen Faszination der Festung auf, der täglichen Routine sowie in Träumen von ‚dem Ereignis‘ (= dem Feind aus der Tatarenwüste) im Leben...

 

Biographie

Dino Buzzati wurde 1906 als zweites von vier Kindern in San Pellegrino in den Dolomiten geboren und wuchs in Mailand auf. Er studierte Jura, brach jedoch 1928 sein Studium noch vor dem Abschluss des juristischen Staatsexamens und nach Beendigung seines Militärdienstes ab, um bei der Zeitung Corriere della Sera in Mailand eine Laufbahn als Journalist einzuschlagen. Trotz starker anfänglicher Schwierigkeiten gelang es ihm, sich durch seinen eigenen, lebendig-narrativen Erzählstil durchzusetzen und bei der Bevölkerung einen großen Bekanntheitsgrad zu erlangen. Neben seiner Tätigkeit als Journalist betätigte er sich auch literarisch. Neben einer Vielzahl von Kurzgeschichten schrieb er von 1933 bis 1939 an seinem bekanntesten Werk, der Tatarenwüste. Von 1939 bis Anfang 1940 war Buzzati Korrespondent in der damals italienischen Kolonie Äthiopien, kehrte aber noch vor dem Kriegseintritt Italiens nach Mailand zurück, wo zeitgleich auch das Buch erschien und mit sehr großer Resonanz aufgenommen wurde. Während des Krieges diente Buzzati als Kriegsberichterstatter, danach war er wieder als Journalist tätig. 1972 verstarb Dino Buzzati mit 66 Jahren in Mailand.

 

Bewertung

Obwohl ich das Buch zum wiederholten Male gelesen habe, so hat es nichts von seiner Faszination für mich verloren. Der Leser tritt mit Giovanni Drogo in seinen neuen Lebensabschnitt ein – und altert mit ihm. Er geht mit ihm zusammen in der Routine auf, hofft mit ihm auf Veränderung – ein Spiegel unseres eigenen Lebens. Nur sind es heute nicht mehr die Mauern einer Festung, die uns umschließen, sondern die alltägliche Routine in Beruf und Freizeit. Und natürlich die digitale Welt, die uns in ein Netz spinnt, umschließt und unser Handeln bestimmt – sei es nun im beruflichen wie auch privaten Bereich! Jeder Leser wird sich irgendwo in diesem Buch wiederfinden, in irgendeinem Lebensabschnitt des Giovanni Drogo, wo sein Leben in gewohnten Bahnen verläuft, genormt in der alltäglichen Routine! Ein Weg zurück existiert nicht und es bleibt nur die Möglichkeit in dieser alltäglichen Routine zu wandeln oder aber aus den Mauern herauszubrechen um neue Ziele zu erreichen…

Fazit: Eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe…