Arztgeschichten

von Michail Bulgakow

 

Verlag: Sammlung Luchterhand

 

Leseprobe

„Besten Dank für die Tropfen, Bürger Doktor. Sie haben wunderbar geholfen! Geben Sie mir bitte noch ein Fläschchen.“
Ich nahm ihr das Fläschchen aus der Hand und las das Etikett, da wurde mir grün vor den Augen. Auf dem Etikett stand in Demjan Lukitschs schwungvoller Handschrift: „Tict. Belladonnae …“ usw., „16. Dezember 1917.“
Mit anderen Worten, ich hatte der Frau gestern eine tüchtige Portion Belladonna verschrieben, und heute, an meinem Geburtstag, dem 17. Dezember, kam sie mit der leeren Flasche und bat um Nachschlag.
„Du… du… hast gestern alles genommen?“ fragte ich mit wilder Stimme.
„Alles, liebes Väterchen, alles“, sang das Weiblein mit zuckersüßer Stimme, „Gott schenke Ihnen Gesundheit für die Tropfen. Die Hälfte, als ich nach Hause kam, die andere Hälfte vorm Schlafengehen. Wie weggeblasen…“
Ich hielt mich am Gebärstuhl fest.
“Was hatte ich Dir gesagt, wieviel Tropfen solltest du nehmen?“ stieß ich mit erstickter Stimme hervor. „Fünf Tropfen! Was hast du angerichtet, Frau? Du… ich…“
„Bei Gott, ich hab sie genommen!“ sagte die Frau, die wohl dachte, ich glaube ihr nicht, dass mein Belladonna geholfen habe.
Mit beiden Händen ergriff ich ihre rosigen Wangen und sah in die Pupillen. Aber die Pupillen waren normal. Ziemlich hübsch, völlig normal. Ihr Pils war ebenfalls prachtvoll. Nicht die geringsten Merkmale einer Belladonnavergiftung.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ sagte ich und schrie: „Demjan Lukisch!“ Demjan Lukisch kam in seinem weißen Kittel aus dem Apothekenflur. „Sehen Sie sich das an, Demjan Lukisch, was die Schöne hier angerichtet hat! Ich verstehe überhaupt nichts mehr…“
Demjan Lukisch bemächtigte sich des Fläschchens, schnupperte daran, drehte es in den Händen und sagte streng: „Meine Güte, Du lügst. Du hast das Medikament nicht genommen!“
„Bei Gott…“, setzte die Frau an.
„Frau, erzähl uns keine Märchen“, sagte Demjan Lukitsch rau mit schiefem Mund, „wir wissen bestens Bescheid. Raus mit der Sprache, wen hast du mit den Tropfen kuriert?“
Die Frau richtete ihre normalen Pupillen auf die säuberlich geweißte Decke und bekreuzigte sich.
„Da soll mich doch…“
„hör auf, hör auf“, brummte Demjan Lukitsch, und wandte sich an mich:
„Die machen das doch so, Doktor. Da kommt so eine Schelmin ins Krankenhaus, man verschreibt ihr ein Medikament, dann fährt sie zurück ins Dorf und bewirtet alle Weiber damit.“

(Ausschnitt aus: Michail Bulgakow – Arztgeschichten; Sammlung Luchterhand)

 

Inhalt

In den autobiographischen Arztgeschichten behandelt Bulgakow seine Erlebnisse, die er vor seiner Tätigkeit als Autor erlebt hat: Wie er als junger Arzt, frisch von der Uni, auf eine Krankenstation im Nirgendwo versetzt wird – als einziger Arzt. Wie er als Theoretiker, unerfahren, mit guten Vorsätzen und vielen (Angst-)Träumen in das kalte Wasser geworfen wird. Und dies meistens mit Erfolg, trotzend den widrigen Wetterverhältnissen sowie dem starken Misstrauen, den Vorurteilen sowie dem Aberglauben der Bevölkerung. In das Geschehen hineingewoben erkennt man auch den literarischen Stil Bulgakows: Feiner Humor, Selbstreflektion und ein Hauch von Zynismus schwingen immer wieder mit.

 

Biographie

Michail Afanasjewitsch Bulgakow wurde 1891 in Kiew in der Ukraine geboren. Nach dem Abitur 1909 studierte er Medizin an der Universität Kiew, 1916 schloss er sein Studium mit dem Diplom ab. Zwischen 1919 und 1921, der Zeit des Russischen Bürgerkrieges und sowie der Folgezeit, verschlägt es Bulgakow an diverse Orte, bis er sich 1921 schließlich in Moskau nieder lässt und dort für eine Reihe von Zeitschriften arbeitet. Bis 1929 ist er als Schriftsteller aktiv, 1930 werden seine Werke jedoch nicht mehr veröffentlicht. Er wendet sich mit der Bitte an Ausreise oder einer Stelle als Regie-Assistent am Kunsttheater Moskau an Josef Stalin, der ihm Hilfe verspricht. So arbeitet Bulgakow in verschiedenen Theatern als Regie-Assistent, ab 1936 ist er im Bolschoitheater tätig. 1939 erkrankt er an Neurosklerose und stirbt 1940. 

 

Bewertung

Ein sehr gut zu lesendes Buch, das auf interessante Weise Einblicke in die ländlichen Zustände zur Zeit der russischen Revolution gibt. In den tiefverwurzelten Aberglauben und die Trägheit der Bewohner auf der einen Seite und dem Fortschrittlichen und gegen alle Widrigkeiten ankämpfenden Arzt und seinem Team auf der anderen Seite. Bulgakow gelingt es dabei sehr gut, den Leser in die Situation des Arztes zu versetzen und ihn den Stress der Arbeit, die Freuden des Erfolgs aber auch die Enttäuschungen spüren zu lassen. – Ein Buch, das ich nur Medizinern empfehlen kann…