Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Leseprobe
Der Alte gab keine Antwort. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Passanten waren nicht da. Auf einmal fasste er mich bei der Hand.
„Mir ist so beklommen!“ sagte er mit heiserer, kaum hörbarer Stimme; „so beklommen!“
„Kommen Sie nach Ihrer Wohnung!“ rief ich, indem ich mich aufrichtete und auch ihn mit Gewalt aufzurichten suchte. „Da sollen Sie Tee trinken und sich ins Bett legen… Ich werde sofort eine Droschke holen. Ich werde einen Arzt rufen; ich bin mit einem bekannt.“
Ich erinnere mich nicht mehr, was ich sonst noch zu ihm sagte. Er wollte sich erheben; aber nachdem er sich ein klein wenig aufgerichtet hatte, fiel er wieder auf die Erde zurück und begann wieder mit derselben heiseren, erstickten Stimme etwas zu murmeln. Ich beugte mich noch näher zu ihm herab und horchte.
„Auf der Wassiljewski-Insel“, flüsterte der Alte, „in der sechsten Linie… in der sech-sten Linie…“
Er verstummte.
„Wohnen sie auf der Wassiljewski-Insel? Aber dann sind Sie falsch gegangen; Sie mussten sich links wenden, nicht rechts. Ich will Sie gleich hinbringen…“
Der Alte rührte sich nicht. Ich fasste ihn an der Hand; die Hand fiel tot herab. Ich sag ihm ins Gesicht und berührte es – er war bereits tot. Mir was, als ob mir das alles nur träumte.
(Ausschnitt aus: Fjodor Michailowitsch Dostojewski – Schuld und Sühne; Insel Taschenbuch)
Inhalt
Iwán Petrowitsch lebt als Schriftsteller unter ärmlichen Verhältnissen in St. Petersburg. Dort gerät er immer stärker in ein Netz aus sozialen, gesellschaftlichen bis hin zu familiären und eigenen Problemen, die Ihn immer intensiver umgeben. Dabei spielen nicht nur die hoffnungslose Beziehung zu seiner Jugendliebe Natálja und deren Familie (in welcher Iwán selber aufgewachsen ist) eine Rolle, sondern auch der selbstsüchtige Fürst Walkówski und sein kindlich-naiver Sohn Alexéj – mittlerweile der Geliebte von Natálja – sowie die undurchsichtig-launische Waise Nelly und der ebenso undurchschaubare frühere Studienfreund Maslobójew. Und mit der Zeit gerät Iwán immer stärker in den Sog von Liebe und Intrigen, dem Jetzt und den Geschehnissen der Vergangenheit, familiären Zerwürfnissen und neuen Hoffnungen…
Biographie
Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde 1821 in Moskau geboren und starb 1881 mit noch 59 Jahren in St. Petersburg – ein Kind des Russlands im 19. Jahrhundert: Geprägt von den starken Umwälzungen der damaligen Zeit, beeinflusst von den Strömungen des Frühsozialismus und revolutionärer Strömungen, Verbannung nach Sibirien, finanziell häufig am Existenzminimum, leidend unter Epilepsie und Spielsucht – all dies fließt in seine vielschichtigen, psychologisch tiefgreifenden Romane, Novellen und Erzählungen seiner literarischen Laufbahn ein. Heute gilt Dostojewski als einer der einflussreichsten Literraten des 19. Jahrhunderts und als einer der Neubegründer der europäischen Romanliteratur.
Bewertung
Erniedrigte und Beleidigte ist eines meiner absoluten Lieblings-Bücher überhaupt und nach Schuld und Sühne meiner Ansicht nach das Beste Werk von Dostojewski: Psychologisch mit hohem Tiefgang, dabei werden sowohl die Charaktere als auch die Handlungen detailliert wie auch sehr emotional dargestellt, verflochten in menschliche Widersprüche, in gesellschaftliche Normen und sozialen Milieus – daher meine eindeutige Empfehlung: LESEN!